Samstag, 18. Juni 2016

ICH BIN EHER SOMMER ALS JUNG UND EHER REGEN ALS ALT


M Fine PageB Kontrasthimmel K PageJ
Rad Knochen Fenster bei Nacht PageL
Ich bin zu jung für alles und zu alt für den Rest, der übrig bleibt, wenn man von umgangssprachlichem Alles alles subtrahiert. Das hat eigentlich ziemlich wenig damit zu tun, dass ich noch nicht 18 Jahre oder schon 17 Jahre alt bin.
Ich plädiere auf der einen Seite dafür, nicht unzufrieden über das Jahrzehnt und die Generation zu sein, in der man geboren wird, sondern diese Zeit mitzuformen und Gutes, Kultiviertes, Spaßiges aus den letzten Jahrzehnten in das Heute zu integrieren und Verbesserungswürdiges von damals heute zu verbessern.
Auf der anderen Seite hab ich aber gar keine Ahnung davon. Vom Formen einer Generation und Mitmischen, wer diese Generation ist und was sie ausmacht. Ich habe keine Ahnung, wie man sich dem Alter entsprechend verhält, wie man spätzündend oder frühvernünftig ist. Was man denkt und findet und falsch macht oder was man denken, finden, falsch machen soll, wenn man so viele bzw. wenige Jahre auf der Erde ist, wie ich.
Ich bin zu jung, um eine eingesessene Künstlerin zu sein, die nach dem Aufstehen in ihrem Atelier an ein großes Fenster gelehnt einen Kaffee trinkt mit Sojamilch und Gedanken an bedeutsame Aufträge, denen es sich gleich zu widmen gelte. Ich bin zu alt, um mit 16 Jahren Sachen zu machen, die 16-Jährige machen, um sie zu bereuen. Ich bin zu jung, um beim Bügeln nostalgische Oldies mitzusingen. Ich bin zu alt, um als Kind schon ein Buch zu schreiben. Ich bin zu jung, um Schallplatten das einzig Wahre zu finden. Ich bin zu alt, um die Zeit zu vergessen. Ich bin zu jung, um zu wählen. Ich bin zu alt, um das Wählen von Möglichkeiten zu verdrängen. Ich bin zu jung, um irgendwas zu wissen. Ich bin zu alt, um nichts zu wissen. Ich bin zu jung, um differenzierte kontroverse Argumente bezüglich Politik und ihren Tücken gediegenen Herren an den Kopf zu werfen. Ich bin zu alt, um unpolitisch zu denken. Ich bin zu jung, um ein zerrissenes schweres Herz in der Brust zu tragen, wehmütig und sehnsüchtig auf einer Bank zu sitzen und die urbanen Menschen in ihrer Eile zu beobachten. Ich bin zu alt, um die Welt mit naiver Liebe zu betrachten.

"Für dein Alter bist du aber ganz schön soundso, scheinst du ziemlich hierundda, handelst du wirklich dortundhier." Das ist schön zu hören, wenn es sich um Komplimente handelt, die auf dem durchschnittlichen Verhalten der jeweiligen Altersgruppe basieren und die Besonderheit herausstellen, dem nicht zu entsprechen. Aber das ist kein wahres Lob. Das Gegenteil ist nämlich außerirdisch nervig, wenn also das eigene Verhalten in negativer Hinsicht mit dem Durchschnitt bzw. eigentlich dem Klischee eines bestimmten Alters abgeglichen wird. Und so sind beide Bewertungen irrelevant, wie jegliche Einstufung von Menschen in Zahlenverhältnisse. 
Ich will nicht meine Existenz lang zu jung oder zu alt sein. Ich bin, und das reicht. Meine Seele ist mal 12, also das 12-Jährige, was man sich bilderbuchhaft darunter vorstellt, mal 82, mal 4, mal gesättigte 61, mal quicklebendige 17, mal ächzende 17, mal hoffnungsvolle 17, meist weise 17 und selten stereotypische 17. Ich bin eine gewisse Zeit auf der Erde, deren Länge aber nichts über meine Kompetenz, Naivität, meine Ideale, Konsequenz oder Sportlichkeit aussagt.
Ich habe keine Generation, das stelle ich fest. Mir fällt es leichter, mir fällt das Sein leichter, die Welt leichter, wenn ich alterlos denke. 

Ich bin Lea, ich bin eine manchmal sehr überraschend kurze, manchmal charmant lange Zeit auf dem Planeten und habe jetzt mein Abitur verhältnismäßig früh absolviert und verhältnismäßig spät meinen letzten Milchzahn verloren (ok, ein bisschen ist es schon her), aber das ist alles relativ. Relativ- verhältnismäßig. Relativ ist die Zeit und die Zeit ist alles, also ist alles relativ- und das ist nicht bloß die Schlussfolgerung, weil vor ein paar Tagen das letzte intensive Beschäftigen mit Mathe zu Ende gegangen ist und diese Rationalität und Logik noch an meinen Knochen ätzt.
Es gibt pauschal auf die Hand kein alt und es gibt kein jung to go.
Wer weiß- vielleicht werde ich auch immer "jünger", je höher die Zahl auf meinen mit Schokolade übergossenen, fotogenen, veganen, saftigen, mit Smarties (Fuck Nestlé) bestreuselten Geburtstagskuchen wird. Weiß das eher eine Dame im hohen Alter im Schaukelstuhl sitzend oder ein auf einer Schaukel eines leeren Spielplatzes sitzender Abiturient? Wer weiß das schon? 

Du bist keine Zahl.




P.S. Ja, nur fürs Protokoll und um die Andeutungen klar auszuformulieren: Das Abitur ist erledigt, geschafft, finito. 

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

hey lea,
dein Text hat mich gerade total gepackt.
Ich kann mich ziemlich gut damit identifizieren.
Bin auch schon 17, aber noch nicht 18...
LG
Hannah

karla.mumford hat gesagt…

"Ich bin zu jung, um ein zerrissenes schweres Herz in der Brust zu tragen, wehmütig und sehnsüchtig auf einer Bank zu sitzen und die urbanen Menschen in ihrer Eile zu beobachten. Ich bin zu alt, um die Welt mit naiver Liebe zu betrachten."
genau das ist gerade einer meiner größten zwiespalte, danke dass du ihn so perfekt in worte gefasst hast!
karla

Anonym hat gesagt…

sehr schön
danke

Sarah hat gesagt…

Hi Lea, deinen Blog verfolge ich schon länger und finde ihn immer wieder inspirierend, doch noch nie hast du mir so exakt mit deinen Worten aus der Seele gesprochen wie gerade eben. Es ist wirklich immer wieder schön nach ein paar Wochen hier vorbeizuschauen und von Menschen zu lesen, die man gar nicht kennt und doch in mancher Hinsicht so denken wie man selbst.. Ich schließe mich den anderen hier an und sage: Danke, dass du hier schreibst!